Minus 40 – Ein Selbstversuch

Der Thermometerteil über der 0 dient der Zierde

Ich kann mich eine meine ersten minus 25 Grad erinnern. Es war im November letzten Jahres in Solberget, in der Nähe von Nattavaara auf halben Weg zwischen Gällivare und Jokkmokk, ca. 100 km nördlich des Polarkreises. Wie jeden Morgen galt mein erster Blick dem elektronischen Thermometer in der Küche: plus zehn drinnen, 30 Grad weniger draußen. „Wow!“, dachte ich, voller Angst, ob man diese Temperaturen überleben konnte, aber auch mit dem prickelnden Gefühl von Abenteuer und, ja: Stolz. Ich war die Erste! Niemand aus meinem Freundeskreis hatte je solche Temperaturen er- geschweige denn überlebt.

Mittlerweile entlockt mir minus 25 nicht einmal mehr ein müdes Lächeln. Längst hat das Thermometer vor meiner Haustür jenen Rubikon über- bzw. unterschritten, seit drei Tagen rangiert es auf dem untersten überhaupt möglichen Skalenpunkt: minus 40.

Minus 40. Normal ist das nicht, auch nicht für hier, für die Gegend um Kiruna, 200 km über dem Polarkreis, nicht einmal für Kurravaara, dort, wo ich wohne, 15 Minuten Fahrt mit dem Auto von der Stadt entfernt in einem Tal direkt am Torneälven: in einem Kälteloch. In Kiruna selbst sind es zwar, wie immer, um die 10 Grad wärmer, dennoch, bei minus 30 konstant über mehrere Tage fangen selbst dort so wie überall in Lapplands Norden, im Land der Frostexperten die Menschen an zu fluchen.

Und die Probleme. Mein Auto, das noch bei 30 Grad ohne Motorwärmer mit keiner Zündkerze gezuckt hat, gibt seit zwei Tagen lediglich müde Stöhner von sich, wenn ich den Zündschlüssel drehe. Mein Duschwasser steht über dem gefrorenen Abfluss. Das Stromkabel meines Staubsaugers brach an mehren Stellen, als ich jenen auf dem Weg von einem Haus ins andere kurz draußen stehen ließ und dann wieder hochheben wollte. Die Zugverbindung im Norden von Luleå an der Ostküste nach Narvik in Norwegen wurde eingestellt, der Lift hoch zur Aurora Sky Station in Abisko geschlossen, Hundeschlitten- und Scooter-Touren werden von den Veranstaltern abgesagt. Kunden mit Erfrierungen sind unzufriedene Kunden.

Minus 20. Fröhlich.

Minus 40. Hätte mir vor einem Jahr jemand gesagt, dass ich das einmal am eigenen Leib erleben, dass ich mich überhaupt freiwillig in eine Region Europas begeben würde, wo solche Un-Temperaturen möglich sind, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Für die meisten Mitteleuropäer ist schon die 25 mit negativem Vorzeichen ein Abstraktum, eine Zahl jenseits von Gut und Böse, vor allem jenseits der Vorstellungskraft. Bereits bei Temperaturen um den Gefrierpunkt meint man in Deutschland bereits, es nicht mehr aushalten zu können. Minus 40? Da kann man sich nur noch hinlegen und sterben.

Das denken übrigens auch die Schweden selbst und zwar nicht nur die im Süden des Landes. Im Küstenstädtchen Skellefteå z.B., 400 km südlich von Kiruna, aber 800 km nördlich von Stockholm schüttelte es sämtliche Anwesenden der Abendessgemeinschaft am Tisch, als die Sprache auf mein Reiseziel kam. „Kiruna? In diese Kälte? Da würd ich nie und nimmer leben wollen!“

Aber – oft gehört, dennoch wahr – die Kälte hier oben ist anders, trockener, aushaltbarer. Minus 15 in Nordschweden sind gefühlt nicht anders als minus 2 in Winternassdeutschland. Hinzu kommt, dass man sich anders anzieht. Funktionskleidung, Schichttechnik, man lernt: Luft ist der beste Isolator, vor allem an den Gliedmaßen. Die ohnehin schon polarisolierten Winterstiefel also am besten zwei Nummern zu groß, Fäustlinge statt Fingerhandschuhe. Die Bedeutung von Mode sinkt proportional mit den Temperaturen, spätestens ab minus 20 wird jeder zum geschlechtslosen Michelin-Männchen. Höchstens eine Hand voll Teenager hält trotzig am Modediktat fest, die Angst, aufgrund eines Kleidungsfehltritts von der Peer-Group gedisst zu werden, ist selbst im kleinstädtischen Kiruna größer als die vor Erfrierungserscheinungen. Und schließlich: Man gewöhnt sich. Klettert das Thermometer nach ein paar Tagen auf unterstem Skalenenniveau wieder hinauf auf minus 30, denkt man unwillkürlich: „Potzblitz, warm heut‘.“

Minus 40. Immer noch fröhlich.

Minus 40. Wie fühlt sich das an? Müsste ich mich in der Beschreibung auf ein Wort beschränken, würde ich sagen: knirschend. Der Schnee unter den Sohlen der Stiefel knirscht, die Daunenjacke knirscht, selbst die Luft um einen herum knirscht. Dazu zwickt es, erst an der Nase, ein wenig später an den Wangen, den einzigen unbedeckten Stellen. Die Hände kann man maximal fünf Minuten aus den Handschuhen ziehen, nach deren Ablauf sie schon ziemlich weh tun. Nicht so weh allerdings, wie wenn sie dann wieder warm werden. Beim Einatmen durch die Nase hat man ein komisches Gefühl, so als würden einem die Nasenwände zusammen kleben. Aber das ist eigentlich schon ab minus 20 so. Überhaupt unterscheidet sich das Allgemeingefühl ab minus 15 ff kaum noch. Es geht lediglich schneller, bis die Kälte es trotz Bewegung durch die Kleidungsschichten hindurch an den Körper und gefühlt bis in die Knochen schafft. Hat man dann keine Sauna zur Hand, ist man für den Rest des Tages kalt gestellt. Aber davon sind hier oben – dank der Nähe zu Finnland – höchsten 0,1% der Bevölkerung betroffen.

Doch Sauna hin, Sauna her, selbst dem Nordschweden wird die Kälte auf die Dauer zu viel, zumindest den 85%, die die Online-(Um-)Frage des Norbottens Kuriren, der größten Tageszeitung hier im Norden, ob sie von der Kälte jetzt genug hätten, mit „Ja“ beantwortet haben. So wie ich. So schön es war, minus 40 einmal ganz unabstrakt erlebt zu haben, jetzt könnten die Temperaturen von mir aus wieder Normalwerte annehmen. Minus 20. Oder so.

Autorin: Silke Gersdorf – silke.gersdorf@web.de

1 Kommentar

  1. John Gilewitsch

    Dankeschön! Das war sehr schön anschaulich beschrieben.

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