Gleiche Wurzeln? Über die Herausbildung einer „gemeinsamen“ Kulturtradition zwischen Skandinavien und Deutschland

Innerhalb Deutschlands herrscht nicht nur ein positives Bild über Skandinavien, sondern auch die Vorstellung einer gemeinsamen Vergangenheit, einer nahen Verwandtschaft ist nachwievor im kulturellen Gedächtnis der Deutschen präsent. Doch wie ist es zu dieser schon so lange anhaltenden und nicht ganz korrekten Annahme gekommen?

Die Herausbildung dieser „gemeinsamen Wurzeln“ ist in der Romantik zu suchen. Vor allem mit dem Entstehen der Nationalstaaten zum Ende der französischen Revolution beginnt die Suche nach einer eigenen Identität. Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin werden wir gehen? All diese Fragen gewinnen zunehmend an Gewicht. Es besteht der Wunsch nach einer historischen Legitimation und so beginnt die Suche nach „einem selbst“ mit dem Ziel eine eigene Nationalität und für die Zukunft das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit innerhalb einer „stabilen“ Nation herauszubilden.
Innerhalb dieses Selbstfindungsprozesses wird sich v. a. auf Geschichte und Mythologie des eigenen Landes berufen. Dieser Prozess der Rückbeziehung wird gleichsam in Skandinavien und Deutschland vollzogen; mit dem Ergebnis, dass in Skandinavien die Rückbindung gelingt, in Deutschland hingegen nicht. Die Hauptursache hierfür kann in den mangelnden historischen Zeugnissen und Dokumenten innerhalb Deutschlands gesehen werden. Um Ersatz zu schaffen für die eigenen, spärlich nachweisbaren Wurzeln, wird in der Romantik nach Norden geschaut und vor allem gegriffen: In Skandinavien herrscht ein reiches Angebot an altnordischer Literatur in Form von Runeninschriften, der Edda und den Sagas. Um die Aneignung der skandinavischen kulturellen Vergangenheit zu legitimieren, bedarf es einer Umgestaltung der eigenen Vergangenheit, einer Verschiebung dahingehend, dass eine gemeinsame germanische Vergangenheit von Skandinavien und Deutschland entsteht, um schließlich die Aneignung der skandinavischen für die deutsche Kulturtradition zu rechtfertigen.
Vor allem Herder gelingt es in seinem Iduna-Aufsatz, das die Völker trennende Volkstum gegen ein gemeinsames und verbindendes auszutauschen. Diese Darstellung ist wegbereitend für die nun folgende Vorstellung einer gemeinsamen kulturellen Vergangenheit, die besagt, die Deutschen hätten ebenso gleichberechtigt Anteil an der skandinavischen Kulturtradition wie ihre Nachbarn im Norden. Dass auch fortlaufend das Bild von Skandinavien mit seiner Natürlichkeit und „Unverbrauchtheit“ anhält, wird u.a. darin gesehen, dass der Projektionsvorgang über die nordische Mythologie hinaus zusätzlich auf das heutige Skandinavien mit seinen Bewohner_innen und seiner Natur übertragen wird.

Autor(in): Karsten Piel – karstenpiel@gmx.de

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